Weiche Schalen – harter Kern: Dimensionen des Sozialen
Philip Scherenberg, Kommentar,
Jeder für sich hat eine ziemlich klare erste Idee davon, was sozial ist und was nicht. Bei genauerem Nachfragen aber zeigt sich oft eher ein diffuses Gefühl als ein konkretes Konzept.

Das ist nicht überraschend, denn „sozial“ ist ein vielseitiger Begriff: Einerseits sind wir alle Teil des Sozialen, unweigerlich, ob wir wollen oder nicht. Andererseits sind nur wenige unmittelbar angesprochen, wenn man ins Sozialgesetzbuch blickt. Sozial zu sein ist jedenfalls weit mehr als eine Haltung – es ist Gesetz.

„Der Sozialstaat ist (…) zu einer gewichtigen wirtschaftlichen Größe geworden. In Deutschland machen die mit sozialen Zwecken legitimierten Zahlungen mehr als die Hälfte aller öffentlichen Ausgaben aus und betreffen ein gutes Viertel des Volkseinkommens. Den größten Anteil nehmen die Alterssicherung und die Gesundheitssicherung (einschließlich der Pflege) in Anspruch. Diese Anteile werden infolge der Alterung der Bevölkerung zwangsläufig weiter zunehmen. Damit wächst nicht nur die Spannung zwischen sozialen und anderen Zwecken des Staates, etwa der Förderung von Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft. Auch die Konkurrenz unter den sozialen Zwecken um die knappen Mittel wird schärfer. Die Sozialgesetzgebung beschäftigt sich heute weit stärker mit der Regulierung der bestehenden Maßnahmen als mit der Bearbeitung neuer sozialer Probleme.“ (Quelle: F.-X. Kaufmann, „Unter Druck“, FAZ vom 10.8.2015, S. 6)

Aber wie können wir „neue soziale Probleme“ entdecken und in ein Verhältnis zu den „alten sozialen Problemen“ bringen, wenn wir schon am Begriff scheitern? Was meint dieser Begriff, um den es bei allen unseren gemeinnützigen Aktivitäten im sozialen Bereich im Kern geht?

Anhand einiger wissenschaftlicher Disziplinen wird nun der Begriff eingekreist und zu einzelnen „Dimensionen des Sozialen“ verdichtet. Die Dimensionen markieren die Kanten des Raums, in dem der Begriff situativ verortet werden kann.

„Sozial“ in der Soziologie

Die Soziologie, als Kernwissenschaft des Sozialen, befasst sich mit der praktischen und theoretischen Erforschung des Verhaltens der Menschen untereinander. Untersucht werden Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens. Soziologische Modelle beschreiben gesellschaftliche Zusammenhänge, messen und diskutieren Verhältnisse von Einzelnen und Gruppen, mit dem Hauptinteresse an den Gruppen. Das Soziale in der Soziologie befasst sich mit dem sozialen Handeln insgesamt.

„Sozial“ in der Psychologie

Das Soziale in der Psychologie untersucht insbesondere die geistige Wechselwirkung von Individuum und Gruppe. Für den Einzelnen geht es dabei um die Auswirkungen sozialer Begegnungen auf seine Gedanken und seine Gefühle und damit auf sein Verhalten. Relevant sind nicht nur die tatsächlichen Einflüsse, sondern auch die erwarteten und sogar die völlig imaginären. Die psychologische Dimension des Sozialen beginnt mit Empathie, also Mitgefühl, d.h. der Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen und daraus Handlungsmotive abzuleiten.

„Sozial“ im Recht

Die große Bedeutung des Sozialen im Deutschen Recht wird im Grundgesetz deutlich (Sozialstaatsprinzip Art. 20 und Art. 28 GG). Hier ist geregelt, dass Deutschland ein sozialer Staat ist, nicht aber, wie das genau zu verstehen sei. Die Ausgestaltung des Sozialstaats bleibt der Politik überlassen und wird im Sozialgesetzbuch definiert. Die Tradition der Deutschen Sozialgesetze wird bereits seit dem Deutschen Kaiserreich stetig fortgeschrieben. So gehört das Deutsche SGB auch heute noch zu den umfangreichsten in dieser Art. Die Aufgaben und Inhalte des SGB lassen sich den einleitenden Sätzen entnehmen:

„(1) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen,

  • ein menschenwürdiges Dasein zu sichern,
  • gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen,
  • die Familie zu schützen und zu fördern,
  • den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und
  • besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.

(2) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll auch dazu beitragen, dass die zur Erfüllung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.“

Aha, endlich ein paar verbindliche Aussagen! Im deutschen Sozialgesetz wird also geregelt, wer hilfsbedürftig ist und wie eine Unterstützung von Hilfsbedürftigen erfolgen kann, mit dem Ziel, eine gerechtere Gesellschaft zu ermöglichen. Gerechtigkeit bzw. die Herstellung derselben durch staatliche Transfers ist die soziale Dimension des Rechts.

„Sozial“ in der Politik

Die Politik hat weitreichende Möglichkeiten bei der Ausgestaltung der rechtlichen Vorgaben, wie etwa den Eingriff der Sozialpolitik in die Wirtschaft (z.B. bei Mitbestimmung, Arbeitszeiten, Mindestlohn, Sozialversicherungsabgaben).

Das Fehlen einer Blaupause für eine übergeordnete Idee des Sozialstaats unterstreicht jedoch die Unsicherheit im Umgang mit dem sozialen Begriff. Inhalte der Sozialpolitik sind immer dem aktuellen Stimmungsbild unterworfen und nicht Teil eines strategischen Gesamtplans. Diese Dynamik folgt dem demokratischen Willensbildungsprozess und damit immer auch modischen und rhetorischen Beeinflussungen durch mehr oder weniger charismatische Politiker. Insofern ist das Soziale in der Politik immer auch gewissen Moden und dem aktuellen Zeitgeist unterworfen.

121,98 Mrd. EUR von insgesamt 296,5 Mrd. EUR Bundeshaushalt beträgt das Budget des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zum Bereich des Sozialen werden aber auch noch weitere Leistungen gezählt (z.B. für Familie, Gesundheit und Bildung), sodass insgesamt über 50 % des Bundeshaushalts im Sozialen Bereich landen. Bei den staatlichen Ausgaben im sozialen Bereich handelt es sich fast immer um Transferleistungen. Deren Höhe ist hier die relevanteste Dimension. Im Jahr 2012 waren das 820 EUR pro Monat je Durchschnittshaushalt. (Quelle: iw-dienst, Nr. 32, 6. August 2015, S. 6)

„Sozial“ in der Volkswirtschaft

Insgesamt umfasst die sozialwirtschaftliche Leistung der Bundesrepublik viel mehr als die oben genannten staatlichen Transfers. Der „Sozialstaat“ setzte 2014 849 Mrd. EUR der insgesamt über 2,9 Bio. EUR Wirtschaftsleistung in Deutschland um. Fast jeder dritte Euro floss also entweder in Gesundheit, Rente und andere Versicherungen, von denen der Zahlende auch tatsächlich selbst profitiert, oder eben in Transfers, bei denen naturgemäß Zahlende und Leistungsempfänger unterschiedliche Personen sind. Die entscheidende Größe ist hier die Sozialleistungsquote, denn an ihrer Entwicklung über die Jahre kann man ablesen, wie sich die Ausgaben für Soziales im Vergleich zur gesamten Wirtschaftsleistung entwickeln. 1913 betrug sie lediglich 3,1 %, 2014 stolze 29,3 %.

Keiner der genannten Bereiche hält die Deutungshoheit über den Begriff und seine Verwendung. Wie bei „Natur“ und „Kultur“ haben wir mit dem „Sozialen“ ebenfalls einen Oberbegriff. So müssen wir auch künftig mit der Unschärfe leben und von Fall zu Fall entscheiden, ab welcher Schmerzgrenze ein soziales Problem angepackt werden soll (Soziales Handeln), ob die vorgesehene Lösung wirklich das Problem behebt (Empathie), wie eine Lösung umgesetzt wird (Gerechtigkeit), ob die Lösung des Problems gerade eine politische Mehrheit findet (Zeitgeist), ob man sich die Lösung überhaupt leisten kann (Transferleistung) und welche alten bisherigen Leistungen man im Gegenzug gegebenenfalls streichen könnte (Sozialleistungsquote).

Der Mensch und die Gesellschaft, in der er lebt, streben nach dem richtigen Handeln – auch im Bereich des Sozialen. Die limitierten Ressourcen richtig zu verteilen, ist unser Anliegen. Um Orientierung zu schaffen und das Richtigere vom weniger Richtigen zu unterscheiden, muss über die Wirksamkeit sozialen Handelns diskutiert werden. Bedingungen hierfür sind Transparenz und Offenheit für Veränderungen. Dann werden sich Chancen eröffnen, dass auch der Sozialstaat und das Soziale insgesamt nicht mehr als diffuser Goldesel wahrgenommen werden, sondern als lernendes, offenes System, das in der Lage ist, neue, innovative Impulse, etwa durch Sozialunternehmer, nicht nur aufzunehmen und zu bewerten, sondern auch wirksam und nachhaltig in die Fläche zu bringen.

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